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DDR

Ehre ihrem Andenken

Gerhard Riege

"Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Hass, der mir im Bundestag entgegenschlägt", schrieb Prof. Gerhard Riege, der 1990 frei gewählte Rektor der Universität Jena und PDS-Abgeordneter im Deutschen Bundestag in seinem Abschiedsbrief,  bevor er sich im Februar 1992 erhängte. Zu Tode gehetzt; „hetzen“ hier sowohl im Sinne von Jagen, Verfolgen, aber auch, wie das Duden-Herkunfts-Wörterbuch Auskunft gibt, im Sinne von „aufwiegeln, Zwietracht säen, üble Propaganda treibend“; „sprachlicher Ursprung: Hass“

Wolf Kaiser

Er war einer der großen Mimen des 20. Jahrhunderts, „The definitive Mac the Knife in the world“ (Londoner Times) aus Brechts Dreigroschenoper.  Brecht “soll froh sein, dass er tot ist, so traurig ich bin. Aber es hat jeder seine Zeit. Würde er heute noch leben, würde er sich das Leben nehmen. Das würde er nicht durchhalten, diese Überschwemmung des Kapitals, Brachialgewalt, Nötigungen,  Kriminalität, Hurerei. Und ich auch nicht“

Hanna Töpfer

Im Januar 1990 nahm sich Hanna Töpfer stellvertretende FDGB-Vorsitzende, die ich gut kannte und sehr schätzte, das Leben. Sie war Absolventin der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, an der auch ich beschäftigt war. Von den Gesprächen, die wir führten, ist mir das letzte in besonders lebhafter Erinnerung, anlässlich meiner und Atti Griebels Ehrung mit der Hermann-Duncker-Medaille des FDGB.  Es drehte sich um die Zensur, um die Demokratie-Defizite im öffentlichen Diskurs. Wenn ich nach einem Menschen  gefragt werden sollte, für den „Beauftragter der Arbeiterklasse“ in der DDR keine Worthülse, sondern ideelle wie praktische Maxime war, fiele mir auch unbedingt  Hanna Töpfer ein.

Dietrich Dalk

Dr Dalk nahm sich 1992 das Leben, weil er,  wie Zehntausende in Ostdeutschland,  von seinem Grundstück durch westliche Alteigentümer vertrieben wurde.  Er wähle einen „öffentlichen Tod“, um gegen das den Ostdeutschen zugefügte Unrecht zu protestieren und zur Umkehr zu mahnen. In einem Offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl  schrieb er: „Ich bin so weit. Ich werde mein Lebern opfern, damit meine Familie und andere Familien in den sogenannten Beitrittsgebieten ihr Leben friedlich dort verbringen können, wo sie heute leben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht. Ich hänge am Leben, einem Leben in Wahrheit, in Selbstachtung und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. ...Ich bin Fraktionsvorsitzender des Neuen Forum/Bündnis 90 der Gemeinde Zepernick und Mitglied des Kreistags Bernau. Was ich in diesen Parlamenten erlebe, ist das Aufgeben jeder eigenständigen Politik. Ich erlebte nur Anpassungsvorgänge an die Strukturen der alten Bundesrepublik. Eine einfache Umschichtung ist im Gange,,, Das ist nach meiner Auffassung auch der Kern in den sogenannten ‚offenen Vermögensfragen`. Ein Vermögensabfluss von Ost nach West größten Ausmaßes wurde von Ihrer Partei, den hinter dieser Partei stehenden Kräften  und Ihnen persönlich eingeleitet.... Wir werden gar nicht mehr gefragt. Aus diesem Grunde, Herr Bundeskanzler, opfere ich mein Leben, Alle anderen Wege des Wachrüttelns bin ich gegangen. Als Familienvater habe ich die Pflicht, meine Familie vor Unheil zu schützen“

Armin Ermisch

In ihrem Jahresbericht 2003 teilte die Universität Regensburg kürzlich mit, dass Dr. Oliver Bosch, Institut für Zoologie, im Rahmen des World Congress on Neurohypophysial Hormones im September 2003 in Kyoto, Japan, als bester Nachwuchswissenschaftler mit dem "Armin Ermisch Award 2003" ausgezeichnet wurde.

Prof. Armin Ermisch, an dessen Schaffen dieser renommierte Preis erinnert, war ein hervorragender Neurowissenschaftler der Karl-Marx-Universität Leipzig, der sein ganzes Interesse den Neuropeptiden und der Blut-Hirn-Schranke widmete. Wegen seiner Mitgliedschaft in der SED wurde er nach der Wende „abgewickelt“. Es halfen keine Solidaritätsbekundungen seiner Kollegen in vielen Ländern, nicht Ehrenerklärungen seiner Leipziger Kollegen, nicht die in Unterschriftsammlungen seiner Studenten  eingebrachten Einsprüche, auch nicht das Urteil des Amtsgerichts Dresden, welches seinem Widerspruch  gegen  seine Entlassung Recht gab. Da seine Arbeit ihm  wichtigster Lebensinhalt war, schied er 1995 aus dem Leben. Felix Meier, Nicht abgewickelter DDR-Professor und damaliger verantwortlicher sächsischer Minister für den Rausschmiss, meinte auf Anfrage der  „Umschau“ des MDR noch im August 2004, dass es „damals“ keine andere Möglichkeit gab. Wie Professor Porsch jüngst erfahren hat, muss man im Sachsenlande immer noch mit denselben „Möglichkeiten“ rechnen.

Es waren sehr viele, die den  Freitod wählten. Käthe Reichel berichtet: „Ein Pfarrer, der jetzt, Ende November 1991, äußerte, dass er vom Friedhof gar nicht mehr runterkomme, antwortete auf die Frage nach den ‚letzten Briefen’: ‚Sie schreiben keine’ Wenn das so ist, haben sie sich in das Schweigen der dritten Welt rasch eingefügt. Von einer Frau immerhin blieb als Zettel die Botschaft liegen: ‚Wir hatten nicht alles, aber sehr viel’“  (Käthe Reichel: Selbstmorde – Selbstmordgedanken; in: Unfrieden in Deutschland, Weissbuch 2, Berlin 1992)

Abschied von der DDR?
Harry Nick

Der Wende- und Nachwendeschub in den ostdeutschen Entwicklungen sei erlahmt, meinte Andrè Brie auf dem letzten PDS-Parteitag. Es sei für die Partei an der Zeit, den Blick nun nach vorn zu richten, sich den wichtigen und komplizierten Problemen der  Gegenwart und Zukunft zuzuwenden. Genau dasselbe war das einzige, was Kai Müller den ND-Lesern zu meinem Buche „Gemeinwesen DDR“ zu sagen hatte; ohne es gelesen zu haben. Die DDR klebe nicht mehr an ihren Schuhsohlen, sie sehe keine Unterschiede mehr in ihren  Lebensumständen und denen ihrer Kommilitoninnen aus den alten Bundesländern, veranschaulichte eine junge Parteitagsdelegierte  diese neue Lage;  sie würden beide, wenn dies angebracht sei, sich zeitweise auch nach London oder an eine amerikanische Universität begeben. DDR-Altschulden, Treuhandanstalt verstehen manche tatsächlich schon als historische Themen, nur noch als Vergangenheits-, nicht mehr als Gegenwartsbewältigung..

Praktisch-politisch ist der Streit über solchen Geschichtsnihilismus eigentlich überflüssig. Selbst wenn wir die DDR „hinter uns lassen“ wollten - man lässt uns nicht. Fast regelmäßig, gehäuft vor den Wahlen, werden immer neue Stasi-Verdachte kreiiert. Geraten Politiker in Erklärungsnot, erinnern sie an das „DDR-Erbe“, wie jüngst Herr Clement. Zu bestimmten Terminen, mehrmals im Jahr, in jeder Haushaltsdebatte zum Beispiel, wird uns das „DDR-Erbe“  vorgehalten.

 Kürzlich erzählte mir ein guter Bekannter in unserer Eckkneipe, dass seine Enkelin, Schülerin der 3. Klasse, aus der Schule kommend, den Schulranzen noch nicht abgelegt, ihn mit sehr ernstem Gesicht fragte: „Warst du auch dabei?“ „Wobei?“ „Bei der SED“  Auch das Gesicht des Erzählers, der nicht „dabei“ war, war sehr ernst.

Es geht  nicht nur um Kampagnen wie „Folter in der DDR“, „Zwangsadoptionen“, um die vielen und teuren Prozesse gegen führende DDR-Repräsentanten, auch nicht um die Hatz, die den Ostdeutschen ein neues geflügeltes Wort bescherte „Außer Mami alles Stasi“. Es geht ebenso um die verheerenden Wirkungen der pausenlos auf die Menschen niederrieselnden DDR-Verleumdungen, welche jede für sich genommen unspektakulär, geradezu unauffällig sein mögen. Manchmal mögen sie mehr zufällig sein, viele wirken wie die Erfüllung einer Ablieferungspflicht. Es ist auch die Masse der „kleinen Lügen“, die in ihrer tatsächlichen Wirkung nichts anderes und nicht weniger sind als ein Genozid an den Erinnerungen eines Volkes.

Welch „gelernter DDR-Bürger“, egal welcher politischer Coleur, könnte sich vorstellen, dass einem Beelitzer Spargelbauer zu DDR-Zeiten von einem Rias-Journalisten mitgeteilt worden wäre, dass in der DDR Spargel „verpönt“ sei. Oder dass in der DDR der Besuch von Kinderkrippen und -gärten „obligatorisch“ gewesen sei. Oder dass in der DDR Kindergärten „durch Befehl der SMAD“ eingeführt worden sind. Oder dass die Ostdeutschen sich so auf den Urlaub gefreut hätten, weil sie dort der Stasi-Kontrolle leichter entrinnen  konnten. Das sind sämtlich Behauptungen in Fernseh- und Rundfunksendungen der letzten Wochen.  In einer Phoenix-Sendung über die DDR-Fernsehreihe „Polizeiruf 110“ wird der „Kreuzworträtselfall“, einem Glanzstück in der Kriminalgeschichte, in welchem landesweit Tonnen von Papier durchgesehen wurden mussten, kommentiert: „Da konnte die Kripo ihr Plansoll an Papierprüfung erfüllen.“ Dies ist der Tonfall, in welchem über die DDR unisono gesprochen wird: Häme,  Verachtung. Nicht in einem einzigen Falle, ob die Sekretärin oder der Fotograf des „Führers“ interviewt wird, wird über Naziverhältnisse, Nazigrößen in solcher verächtlichen Weise gesprochen.

Auch über die Totalitarismus-Doktrien lohnt sich praktisch-politisch ein Streit nicht mehr. Ich muss mich hier wiederholen (aus meinem Buch „Gemeinwesen DDR“, VSA-Verlag 2003): „Die gröbste und über jeden Zweifel erhabene eindeutige praktisch-politische Blamage des Totalitarismuskonzepts ist ... nicht einmal die Gleichsetzung von Faschismus und »realem Sozialismus«, sondern die Schlimmerbehandlung der DDR-Staatsnahen im Vergleich zu den Dritte-Reich-Staatsträgern. Es gibt nichts Verräterischeres, Aufschlussreicheres als dies über den hier und heute herrschenden Zeitgeist. Die DDR-Staatsnahen werden wirklich wie Feinde behandelt, ganz anders, als die Bundesrepublik mit den Nazis umging. Ist es vorstellbar, dass ein ostdeutscher Ministerpräsident die ihm zu DDR-Zeiten verliehene Verdienstmedaille anlegt und sich öffentlich damit zeigt? Der Streit darum, von wem er sie ausgehändigt bekam, hätte Manfred Stolpe fast zu Fall gebracht. Aber ein Bundesminister und Vizekanzler, Herr Dr. Mende, hatte sich das ihm von Hitler verliehene Ritterkreuz umgehängt und sich auf Empfängen damit gezeigt“

Nichts mit der Gauck/Birthler-Behörde Vergleichbares hat es auf der Suche nach Naziverbrechern in der BRD gegeben, keine „Bürgertelefone“, wie zum Beispiel das vom Berliner Regierenden Bürgermeister extra dafür eingerichtete, DDR-Unrechtstäter anzuzeigen. „Toleranz mit den Tätern“ sagt Anna Rosmus, „die Hexe von Passau“, so heißt der Bericht von Hans-Dieter Schütt über diese mutige Frau (dietz berlin 1994). Die hatte als Abiturientin  sich an einem vom Bundespräsidenten ausgeschrieben  Aufsatzwettbewerb beteiligt, der sie veranlasste, dem Verhalten der Bürger ihrer Stadt Passau in der Nazizeit nachzuforschen. Sie geriet in einen braunen Sumpf.  Offiziell geehrt für ihre Bücher, auch von der Stadt, im Alltag aber von der Bürgerschaft mit Hass und Wut verfolgt. „Passau ist eine gewöhnliche Stadt in Deutschland. Mit Vergessen beschäftigt, mit Wegschauen“ sagt Anna Rosmus..

Null-Toleranz gegen DDR-Staatsnahe trifft es nicht mal, es ist viel mehr. Es ist abgrundtiefer Hass. Der ist mit der Liebe zu Demokratie und Freiheit nicht erklärbar. Nicht „Stalin ist tot!“, sondern „Marx ist tot!“ war der Jubelschrei eines bundesdeutschen Sozialministers auf der Gdansker Leninwerft. Nicht nur gegen das sowjetische Sozialismus-Modell, sondern gegen den  Sozialismus überhaupt richtet sich dieser Hass. Seine Quellen reichen bis in die Ursprünge der Klassengesellschaften. Ich kann ihn mir nicht vorstellen ohne zu vernehmen: Habt ihr die Lektion, die wir  Thomas Münzer  erteilt haben, vergessen? Oder Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg? Und den Zehntausenden mit ihnen und danach?

Manchmal kriegen wir es auch direkt gesagt, dass wir Ostdeutschen nicht legitime Kinder dieser Republik sind. Felix R. Mindt, früher Regisseur und Moderator beim ZDF, kleidet die West-Ost-Transfers in eine anrührende Familiensaga von adoptierten (Ost)kindern, die dauernd quängeln, immer mehr verlangen, auch mehr kriegen, so dass schließlich die „eigenen Kinder“ zu kurz kommen. „Sie haben sich längst daran gewöhnt und nehmen es nicht nur für selbstverständlich, sondern fordern immer diese an sich nicht mehr nötige Unterstützung lautstark ein. Obwohl ihnen immer noch vieles geschenkt wird, nörgeln sie weiter und pochen auf vermeintliche Rechte“ (Die Soli-Abzocke. Die Wahrheit über den Osten. Eichborn 2003) Die Nazis mögen höchstens als böse, als missratene, als aus der Art geschlagene Kinder bezeichnet  werden; dass sie aber nicht die „eigenen“ Kinder  gewesen wären, habe ich nie gehört.

Die politische Schizophrenie des schonenderen Umgangs mit der schlimmeren Diktatur, um es sehr zurückhaltend zu formulieren, ist  offenkundig. Die Versuche, sie irgendwie zu kaschieren, hat durchaus auch positive Wirkungen. Jedenfalls verdanken es die Westdeutschen der Wende in der DDR, dass die Namen wenigstens der fanatischsten Nazi-Generale, von den Schildern der Bundeswehrkasernen klammheimlich verschwunden sind. Dass 50 Jahre nach Kriegsende  Entschädigungen für Zwangsarbeiter im Nazireich gezahlt werden, dass 2004 SS-Verbrechen, die bislang totgeschwiegen wurden,  endlich von deutschen Medien und deutschen Politikern genannt werden, hat natürlich auch mit der Wende zu tun.

Nein, es geht hier nicht nur um Vergangenheit. Es geht vor allem um das offenbar tief verwurzelte anti-kapitalistische, pro-sozialistische Potential, das im Osten Deutschlands immer noch lebendig ist.

Bedrückend die Vorstellung, dass niemand mehr da sein könnte, der aus eigenem Leben  widersprechen kann: Es gab ein Recht, aber keine Pflicht zum Besuch von Kinderkrippen- und Kindergarten in der DDR. Von meinen vier Söhnen war nicht einer in der Kinderkrippe. Oder der noch weiß, dass zu der Zeit, da es die „Sowjetische Besatzungszone“ wirklich gab, zwischen Zusammenbruch 1945 und DDR-Gründung 1949 ( in Politik und Medien der Bundesrepublik gab es sie bis in die siebziger Jahre, für manche Leute bis zum DDR-Ende), Befehle der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) die allgemeine Form waren, in welcher quasi-staatliche Verordnungen gehalten waren. Und der das Lebensgefühl noch erinnert, welches auch aus völliger Abwesenheit sozialer Ängste fließt Von sozialer Angst geplagte Menschen, von denen ich heute viele kenne, kannte ich in der DDR nicht.

Die sozialpsychische Verfasstheit der DDR-Gesellschaft, ihrer verschiedenen politischen und sozialen Milieus, sind nach meinem Empfinden bei weitem nicht erkundet. Was ist dem Historiker und DDR- und SED-Spezialisten Hermann Weber entgegenzusetzen, der meinte, diese Gesellschaft sei nur durch Angst und Privilegien zusammen gehalten worden? Was dem Philosophen und Theologen Richard Schröder, der 2004 äußert, dass das Gefühl von menschlicher Wärme und Solidarität in der DDR vor allem aus der Mangelwirtschaft, den naturalen Tausch-Verhältnissen, resultierte? Soll man ihn fragen, womit er gehandelt hat? Ich jedenfalls hatte keine „blauen Fliesen“ anzubieten, weder als Kachel, noch als Papier der Bundesbank

Solide theoretische Analysen und Verallgemeinerungen sind dringend nötig. Dringender noch wären, glaube ich,  Erzählungen, Romane der DDR-Schriftsteller, die ich  sehr vermisse. Auch zu DDR-Zeiten war, wie Jürgen Kuczynski damals vermerkte,  mehr und Genaueres über die Lebensweise in der DDR-Gesellschaft von Literaten und Filmemachern zu erfahren als von Gesellschaftswissenschaftlern. Am dringendsten aber sind Lebensberichte. Und am ergiebigsten solche, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der eigenen  vita gespiegelt werden.

Vor allem deshalb  ist die jüngste Autobiografie die ich gelesen habe, für mich auch die beste. Es ist der Lebensbericht eines Menschen, der in der heute noch maßgeblichen Klassifikation der DDR-Bevölkerung durch Herrn Eppelmann gar nicht vorkommt – der eines überzeugten Sozialisten, der aus humanistisch-sozialistischer Gesinnung unermüdlich, seine Kräfte nicht schonend, sich für dieses Gemeinwesen DDR einsetzte. „Prägungen aus acht Jahrzehnten. Bitterfelder Weg eines Generaldirektors“ heißt dieses Buch von Heinz Schwarz, erschienen 2004 im GNN-Verlag. Interessanter, spannender sind auch gute Romane nur selten. Er hätte ja nicht berichten müssen, dass er während der Olympischen Spiele 1936 dem berühmten US-amerikanischen Sportler Jesse Owens das Sportzeug gestohlen hat. Hätte er  das verschwiegen, hätte er vielleicht auch nicht erzählt, wie er in einer Politbürositzung, in welcher ein von ihm vorgelegtes Konzept über Rationalisierung und Modernisierung der Chemieanlagen  behandelt wurde, die Verdrehungen Günter Mittags schweigend hingenommen hat. Hätte er es nicht hingenommen, wäre das ganze Konzept sicher zurückgewiesen worden. Ein tiefer lotender und wahrheitsgetreuer Bericht über DDR-Verhältnisse kommt ohne solche Eingeständnisse kaum  aus. Weil jeder, der Verantwortung trug, auch in Situationen kam, in der er sich beugen bis verbiegen musste. In der bundesdeutschen Gesellschaft gibt’s das natürlich nicht, hier walten edle Gesinnung, Aufrichtigkeit ungebrochen!

Die Gier vieler Ostdeutscher nach Balsam für die geschundene Seele ist groß und verständlich. Zu den Büchern, die sie befriedigen wollen und dies auch vermögen, gehören die von Siegfried Wenzel „Was war die DDR wert?“ (2001) und „Was kostet die Wiedervereinigung?“ (2003). Wer sich der Flut von heute gängigen Verdrehungen, Fälschungen, fast zu Axiomen geronnenen Klischees unwahrer Aussagen über die DDR-Wirtschaft, die Treuhandpraxis, die West-Ost-Transfers erwehren will, dem wird hier geholfen.

Aber auch hier gilt: Das direkte Gegenteil von einem Fehler ist eben oft bloß ein anderer Fehler, wie Tucholsky sagte. Auch hier ist es witzlos darüber zu streiten, welcher schlimmer ist. Die Abwehr von DDR-Verleumdungen gerät bei Siegfried Wenzel zu DDR-Verklärung. Der Autor  entlässt den Leser zum Beispiel mit der Frage: Wieso gibt es die marktwirtschaftliche Ordnung Griechenlands und anderer Länder mit einem viel niedrigeren Lebensniveau als dem der DDR immer noch, und die DDR nicht mehr? Ja, wieso eigentlich? Waltete hier ein Versehen, eine Verschwörung, ein historischer Unfall?  Ich teile seine Meinung nicht, dass Leitung und Planung der DDR-Wirtschaft bis zu deren Untergang ja „funktioniert“  hätten.. Auch nicht seine Meinung, dass  die allgegenwärtige Mangelwirtschaft in der DDR , die den volkswirtschaftlichen Organismus hartleibig machte wie Stein, Neuerungsfähigkeit wie -willigkeit  verhinderte,  „nicht systembedingt“ gewesen waren. Er nennt weder ihre wirklichen Ursachen, noch ihre verheerenden Wirkungen. Die Ursachen für wirtschaftliches Versagen der DDR kann nicht nur auf äußere Umstände, auch nicht nur auf politische Fehler zurückgeführt werden, die innere Systemschwächen spielten eine große Rolle.

In den Erwiderungen auf die Anti-DDR-Klischees müssen alle Platz finden, die es in dieser gespaltenen Gesellschaft gibt, auch  die ostdeutschen Selbstverstümmeler ihrer eigenen Erinnerungen, auch die Treuhandangestellten und westdeutschen Unternehmer,  die sich um den Erhalt ostdeutscher Betriebe mühten, selbst die Wessi-Beamten, die redliche Hilfsbereitschaft in den Osten verschlagen hat.

 

 
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